Im dritten und letzten Teil des Interviews mit Christoph Keiper, dem Leiter des Humanistischen Hospizdiensts der AWO Stuttgart, berichtet dieser von seiner prägenden ersten Begleitung, wie er mit all dem Schweren umgeht, was er tagtäglich erlebt und inwiefern er das Thema Tod und Trauer als Tabuthema erlebt.

Das Interview mit ihm führte wieder Kathrin Justen (ehrenamtliche Mitarbeiterin des Hospizdienstes).

Christoph, du hattest in den letzten fast vierzig Jahren unzählige Begegnungen im Rahmen der Hospizarbeit. Welche ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Meine erste Begleitung. Noch vor Abschluss der Ausbildung bin ich gebeten worden, dort einzusteigen. Ich war einer der wenigen Männer in dem Ausbildungskurs, und da der Mann Hodenkrebs hatte, hatte man die Idee, lieber einen männlichen Begleiter zu ihm zu schicken. Er war Professor an der Universität, und wir haben uns noch viel über sein Fachgebiet unterhalten. Er wollte unbedingt noch sein letztes Buch zu Ende schreiben, und wollte daher vor allem Ruhe vor seiner Frau. Die wollte ihn betüddeln, und zugleich hatten sie ein wenig Schwierigkeiten in ihrer Beziehung. Ich habe ihm dann gesagt, ich würde etwas mit seiner Frau unternehmen. Wir sind viel spazieren gegangen, und da sie ein Pferd hatte, habe ich sogar ab und an meine Tochter mitgebracht zum Reiten. Als Paar konnten sich die beiden durch die unterschiedlichen Beschäftigungen wieder freuen, einander zu sehen. Und für mich war es eine sehr dichte Zeit dort.

Etwa acht bis zehn Jahre später bekam ich einen Anruf von der Frau. Sie hat gesagt, sie wäre im Krankenhaus und würde aufgrund eines metastasierten Krebses operiert werden. Man wisse nicht, ob sie wieder aufwache. „Ich hatte mich nicht getraut dich anzurufen, du bist irgendwie mein Todesengel“, sagte sie. Aber nun, kurz vor der OP, wollte sie mich gern noch einmal sehen. Ich bin dann zu ihr hin. Es war sehr schön, zu hören, was für ein Leben sie noch geführt hat. Sie ist dann tatsächlich während der OP gestorben.

Wie war das für dich, dass es dann tatsächlich auch entsprechend ihrer Befürchtung gekommen ist?
Das war eigenartig und traurig. Beim Verabschieden hatte sie mich, als ich schon in der Tür war, nochmal angesprochen und gefragt: „Glaubst du, dass ich davonkomme?“ Ich habe geantwortet: „Du, Julia, wir würden uns das beide total wünschen. Aber ich war immer ehrlich zu dir. Du musst, glaube ich, auf alles vorbereitet sein.“ Es hat die Ehrlichkeit gebraucht, alles andere wäre unpassend gewesen. Sie hat sich dafür bedankt. Als ich dann von ihrem Tod gehört habe, war ich erschüttert. Irgendwie ist erst mit ihrem Tod meine erste Begleitung zu Ende gegangen.

Wie gehst du mit all dem Schweren um, was du erlebst?
Ich spreche drüber. Ich habe Kollegen, mit denen ich reden kann. Ich genieße Freunde und Familie. Oder ich höre Musik. Generell schätze ich Alltagsablenkungen sehr, die sind sehr wohltuend. Und natürlich, im Laufe der Zeit, habe ich gelernt, diese schlimmen Schicksale von meinem eigenen Schicksal zu trennen, eine Professionalität zu entwickeln. Manchmal bin ich aber auch selbst erstaunt darüber, wie unbelastet ich aus Geschichten rausgehe, die todtraurig sind.

Und dennoch: Manche Sachen schlagen durch. Ein schlimmer oder überraschender Tod zum Beispiel. Ich hatte mal in einer Trauergruppe die Ehefrau und Mutter eines Mannes, der ermordet wurde. Oder die Geschichte eines Freundes, der gerade ein Kind begleitete. Der rief mich dazu an, und dann saßen wir beide am Telefon und haben geheult. So hohe Mauern kann keiner bauen, dass es nicht manchmal durchschlägt.

Und das ist dann auch ok?
Das ist wichtig. Ich mag diese Momente. Denn sie sind wahrhaftig. Sie zeigen mir, dass ich fähig bin, todtraurig zu sein, verzweifelt und mitfühlend. Denn woran merken wir denn, dass wir mitfühlende Menschen sind? Dadurch, dass wir Mitgefühl haben, und dass dieses auch mal die Führung übernimmt. Ich bin doch nicht immer Profi. Ich sehe das als gutes Zeichen.

Gibt es solche Momente auch in den Begleitungen, oder lässt du das eher im privaten oder kollegialen Rahmen raus?
Es gibt viele Situationen, in denen ich so etwas sage wie: „Mensch, wenn ich Ihnen so zuhöre, spüre ich das sehr und merke, wie traurig sich das anfühlt. Wie muss das dann erst für Sie sein.“ Das ist authentisch. Ich stelle dem anderen mein eigenes Gefühl zur Verfügung, steige aber nicht voll in den Schmerz ein. Dann wäre ich nicht mehr handlungsfähig. Und ich möchte immer handlungsfähig sein für die Menschen. 

Der Hospizdienst begleitet auch An- und Zugehörige. Was ist dir dabei wichtig?
Ich gehe der Frage nach, welche Geschichte die sterbende Person in ihr Leben gebracht hat. Was hat er oder sie mitgegeben? Gibt es noch ein Gesprächsthema? Damit möchte ich zur Kommunikation und zur Wertschätzung auffordern. Und vielleicht ein wenig dabei helfen, den Blick zu wenden und sich nicht nur lenken zu lassen von Abschied und Trauer.

Ich habe dieses Jahr ein Paar kennengelernt, das zu Beginn noch nicht über den Tod sprechen konnte. Die Frau hatte nur noch circa einen Monat zu leben, und die beiden haben das Thema weggeschubst. Ich war dort nur zum Kennenlernen, danach übernehmen ja in der Regel die Ehrenamtlichen die Begleitungen. In so einer Situation geht viel, wenn man es nicht anmaßend macht, vorsichtig ist. Das ist immer herausfordernd, und zugleich schön, wenn man sieht, was passieren kann.  

Wie bist du vorgegangen?
Ich habe Fragen gestellt, so etwas wie: „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie beide noch nicht so richtig über den Tod gesprochen haben?“ Das ist dann meine Wahrnehmung, die bedroht sie nicht. So konnten sie darüber nachdenken und sich fragen, ob es vielleicht an der Zeit wäre. Und das war dann richtig gut. Der Knoten war gelöst. Meine Erfahrung ist, dass das Gesprächs-Tabu manchmal gar nicht so groß ist. Man traut sich nur nicht so richtig. Dann kann auch schon mit einer Frage etwas in Bewegung kommen.

Du sprachst gerade von Tabu. Immer noch ist der klassische Einstieg in Berichterstattung oder Diskussionen über den Tod, dass dies in unserer Gesellschaft ein Tabu-Thema sei. Würdest du das noch so unterschrieben?
Da bin ich mir nicht sicher. Es gibt inzwischen viele Fernsehserien und Sendungen dazu. Die Gesellschaft hat sich verändert. Ich finde eher, dass es noch viel Unwissen gibt. Was mache ich, wenn jemand stirbt? Wie funktioniert Trauer? An wen kann ich mich wenden? Wir sind eine Informationsgesellschaft und keiner weiß diese Dinge und kennt die Angebote, die es ja gibt. Das finde ich absurd. Wie oft habe ich gehört: „Wenn ich das gewusst hätte.“

Wenn du nun den Blick voraus wirfst. Was wünschst du dir für den Umgang mit dem Thema, für den Hospizdienst?
Sehr groß formuliert fände ich es schön, wenn unsere Gesellschaft merkt, wie wichtig und ordnend der Tod eigentlich ist. Er ist ein ständiger Begleiter, der Angst macht. Der aber zugleich auch eine ordnende Wirkung hat und viele Werte schafft, Werte neu kalibriert. Die Endlichkeit ist ein Wert. Wir können nicht so leben, als sei das Leben auf Dauer frei verfügbar. Es muss endlich gelebt werden. Diese Haltung trage ich auch rein in die Begleitungen, in die Art und Weise meiner Arbeit. Nicht schwurbeln, sondern direkt sein, ist mir beispielsweise wichtig.   

Was beinhaltet es für dich, das Leben als endlich leben?
Es bedeutet für mich, das Schöne, was gerade machbar ist, zu machen. Das regt meine Frau auch manchmal auf, dass ich zum Beispiel sage: „Heute ist der letzte schöne Tag dieser Episode von schönen Tagen.“ Dann setze ich mich auf die Wiese, lese, trinke Rotwein, und die ganze Arbeit kann liegen bleiben. Es geht aber auch darum, Begegnungen zu schaffen, nichts anbrennen zu lassen. Konfliktfreudig zu sein, nichts zu sehr nach innen zu schieben. Mikroentscheidungen anders zu treffen, die vielleicht zu einem anderen Leben führen: Netflix oder Spazierengehen? All das habe ich gelernt.

Welchen Wert verbindest du vorrangig damit?
Sich zunehmend sich selbst bewusst zu sein. Das ist plakativ, aber super schwer. Ich bin doch so oft abgelenkt von mir selbst. Dem zu widerstehen, das ist mein Hauptwert.

 

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